Finanzen

Vollverzinsung nach § 233 a AO ab dem 1. Januar 2014 verfassungswidrig und ab dem Jahr 2019 unanwendbar

Mit Beschluss des Ersten Senats vom 8. Juli 2021, Az. 1 BvR 2237/14 1 BvR 2422/17, zur Vollverzinsung hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass § 233a der Abgabenordnung mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar ist, soweit der Zinsberechnung für Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2014 ein Zinssatz von 0,5 Prozent für jeden Monat zugrunde gelegt wird.

Dies gilt für die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen. Das bisherige Recht ist für bis einschließlich in das Jahr 2018 fallende Verzinsungszeiträume weiter anwendbar. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen.

Die Entscheidung wurde vom BVerfG maßgeblich damit begründet, dass Vollverzinsung mit einem Zinssatz von 0,5 % pro Monat sich für in das Jahr 2014 fallende Verzinsungszeiträume als nicht mehr erforderlich erweist und gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Die Verzinsung mit einem Zinssatz von monatlich 0,5 % ist trotz der grundsätzlichen Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers dann nicht mehr zu rechtfertigen, wenn sich der typisiert festgelegte Zinssatz im Laufe der Zeit unter veränderten tatsächlichen Bedingungen als evident realitätsfern erweist. Dies ist spätestens seit dem Jahr 2014 der Fall. Nach Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 hat sich ein strukturelles Niedrigzinsniveau entwickelt, das nicht mehr Ausdruck üblicher Zinsschwankungen ist, so das BVerfG.

Aus der Sicht des DStGB ist der Bundesgesetzgeber nun in der Pflicht, möglichst schnell eine rechtssichere Neuregelung in der Abgabenordnung zu schaffen, die die Entscheidung des BVerfG umsetzt. Die Frist, die das BVerfG hierzu bereits zum 31. Juli 2022 gesetzt hat, zeigt, dass hier rasch gehandelt werden muss. Wir hatten als DStGB schon vor der Entscheidung des BVerfG an den Bund appelliert, für die Zinsregelungen nach der Abgabenordnung Rechtssicherheit zu gewährleisten, die nur und alleine der Bundesgesetzgeber herstellen kann. Die Gemeinden sind allerdings von der nun beschlossenen Unanwendbarkeit des § 233 a AO ab dem Jahr 2019 deutlich betroffen.

Das BVerfG führt aus, dass es für ab in das Jahr 2019 fallende Verzinsungszeiträume bei der Unanwendbarkeit des § 233a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO als Regelfolge des Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG bleibt. Gerichte und Verwaltungsbehörden dürfen die Norm im Umfang der festgestellten Unvereinbarkeit nicht mehr anwenden, laufende Verfahren sind auszusetzen (BVerfGE 122, 210; 138, 136). Dem entspricht die Pflicht des Gesetzgebers, eine der Verfassung entsprechende Rechtslage herzustellen, die sich rückwirkend auf alle Verzinsungszeiträume nach dem Jahr 2018 erstreckt und insoweit auch alle noch nicht bestandskräftigen Hoheitsakte erfasst (vgl. dazu BVerfGE 87, 153; 107, 27; 133, 377).

Die Gefahren für eine verlässliche Finanz- und Haushaltsplanung von Bund, Ländern und Kommunen seien für Verzinsungszeiträume nach 2018 geringer, so das BVerfG. Gesetzgeber, Verwaltung und Steuerpflichtigen habe es spätestens seit dem Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 25. April 2018 (BFHE 260, 431), aufgrund der hohen Anzahl zunehmend kritischer Stimmen in der Literatur sowie verschiedener gesetzgeberischer Initiativen ab Sommer 2018 mit Blick auf die fehlende Realitätsgerechtigkeit des bisherigen Zinssatzes zunehmend bewusst sein müssen, dass die Anwendung des Zinssatzes des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO auf die Vollverzinsung zu erheblichen Ungleichheiten führt, die mit großer Wahrscheinlichkeit verfassungsrechtlich nicht mehr rechtfertigungsfähig ist. Bund, Länder und Kommunen treffe die Unvereinbarkeit des gesetzlichen Zinssatzes mit dem Grundgesetz, soweit er auf die Vollverzinsung Anwendung findet, auch nicht unvorbereitet. Schon aufgrund des nach dem Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 25. April 2018 (BFHE 260, 431) ergangenen Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen vom 14. Juni 2018 (BMF, BStBl I S. 722) ist im Bereich der Finanzverwaltung für Verzinsungszeiträume ab dem 1. April 2015 auf Antrag der Zinsschuldner Aussetzung der Vollziehung zu gewähren, soweit Einspruch gegen die Zinsfestsetzung eingelegt worden ist.

Bund, Länder und Kommunen hätten daher spätestens für Verzinsungszeiträume nach dem Jahr 2018 auf die durch die vorliegende Entscheidung entstehenden Rückforderungsansprüche und Einnahmeausfälle vorbereitet sein und deren mögliche Auswirkungen berücksichtigen müssen, so das BVerfG. Entsprechendes gelte, soweit von der Anwendungssperre und der rückwirkenden Neuregelung auch Erstattungszinsen zugunsten der Steuerpflichtigen betroffen sind. Soweit Zinsfestsetzungen – unabhängig von der Frage, ob dies einfachrechtlich zulässig ist – vorläufig ergangen sind, wird die Finanzverwaltung beziehungsweise die Gemeinde im Fall von Erstattungszinsen auf die Gewerbesteuer zu prüfen haben, ob und inwieweit der Aufhebung oder Änderung einer Zinsfestsetzung zuungunsten der Steuerpflichtigen die Vertrauensschutzregelung des § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 239 Abs. 1 Satz 1 AO (in Verbindung mit § 1 Abs. 2 Nr. 5 AO) entgegensteht.

Die vom BVerfG veröffentlichte Pressemitteilung vom 18. August 2021 sowie die Leitsätze und der Beschluss dieser Entscheidung im Volltext stehen nachfolgend zum Download zur Verfügung:

Download Leitsätze

Download Pressemitteilung BVerfG

Quelle: Schrb.DStGB vom 18. August 2021

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